Judith Keller
Oder?
Florian Bissig im Gespräch mit Judith Keller über ihren Roman
«Oder?»
Romanfiguren sind üblicherweise Marionetten, der Willkür ihrer Schöpferin ausgeliefert. Dass es auch anders geht, zeigt Judith Keller in ihrem Roman «Oder?». Ihre zwei Protagonistinnen fühlen sich «schlecht erzählt», und nehmen das Heft im wahrsten Wortsinn selbst in die Hand. Auf der Suche nach ihrem mutmasslichen Schöpfer wandeln sie auf den Spuren von Odysseus, Hyperion und Stiller, ohne ihre Oerlikoner Bodenhaftung je ganz zu verlieren. «Oder?» ist ein Fest der Fabulierlust, bei dem auf spielerische und vergnügliche Weise mit den Konventionen des Erzählens gebrochen wird.
Judith Keller, bei der Lektüre Ihres Romans «Oder?» kommt man zunächst in den Genuss einer Erzählung, dann einer Reihe von Prosavignetten. Darauf folgt ein Manuskript mit Durchstreichungen und Verbesserungen, und schliesslich franselt der Text regelrecht in allerlei fragmentarische und rätselhafte Formen aus: Ein schwieriger Text – einverstanden?
Nein! Ich glaube, dass man sich gleich von Beginn vom Anspruch verabschieden darf, alles darin verstehen zu müssen. Es ist vielleicht eher ein Trip. Wenn ich noch einmal zusammenfassen darf: Es beginnt mit einer Erzählung, in der die Figuren Alice und Charli bemerken, dass sie geschrieben 2 werden. Nicht einverstanden damit, wie sie erzählt werden, und der Handlung müde, der die Erzählung eigentlich hätte folgen wollen, beschliessen sie, aus jenem Plot auszusteigen und ihren Autor namens Kneter – auch Vater von Alice – in Griechenland zu suchen. Später finden sie dann das Notizheft Kneters in einem Café. Darin befinden sich Sätze aus der ersten Erzählung, die sie durchstreichen und darunter andere Sätze schreiben. Im letzten Teil mit dem Titel «Oder?» füllen sie die leeren Seite des Notizheftes mit kurzen Texten oder einzelnen Sätzen. Man könnte es als eine Art Logbuch sehen, in dem sie ihre Reise kommentieren.
Das «Oder» steht also für ein Denken in Varianten?
Ja, der Titel des Teils «Oder?» ist eine Art fragender Kommentar. Die Figuren haben Lust, verschiedenen gleichzeitigen Realitäten Rechnung zu tragen. Es kommen dort verschiedene Zeiten vor und verschiedene «Ichs», die sich äussern. Manchmal spricht auch Kneter, manch-mal der Lektor Nöldi etc. Einige «Spuren» werden dort wieder aufgenommen, wie etwa die Suche nach Kneter oder auch die Suche nach den Müttern oder der Strang um Roger Federer. Alice und Charli suchen die Wahrheit eher in einer Bewegung, sind stark im Moment. Sie sind zu ungeduldig, zu beweglich und zu hochgestimmt, um ihre Kommentierlust, ihre Fest-stellungen klassischen narratologischen Regeln unterzuordnen. Sie sind irgendwie überall und gleichzeitig und stellen ihre Behauptungen auf, wie es ihnen gerade passt. Und dann haben sie auch Lust, immer wieder alles Aufgestellte über den Haufen zu, wie sie sagen würden: «rühren».
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